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Montag, 5. Oktober 2015

Das Risiko

Es gibt eine Sache, die mir am Herbst nicht gefällt. Er macht mich nachdenklich. Während ich im Sommer oft nicht weiß, wohin ich als erstes rennen soll, so zwingt mich der Herbst, mich wieder mehr zu besinnen. Auf mich und alles, was sich so angestaut hat, in meinem Kopf. Manchmal wünschte ich ein paar Parameter weniger Emotionalität in mir zu tragen, weniger sensibel zu sein, mehr im "Jetzt" als im "Vergangenen" zu sein. Aber jeder Versuch das zu ändern, wäre eine Verleugnung meiner Selbst. Und wenn ich schon immer propagiere, daß jeder er selbst sein darf, sollte ich für mich wohl auch damit anfangen.
Du bekommst Dein Leben geschenkt, kennst das Ende nicht, weißt nicht, wie, wann und durch welche Umstände Du es verlässt. Du hast eine kurze Zeit, denn in der Unendlichkeit, sind wir nicht mehr als ein Wimpernschlag. Und nun sollst Du zwischen Arbeit, Kochen und Putzen das Optimum herausholen. Du wirst älter und merkst auf einmal, daß Zeit nicht bedeutet, Dir im Juni schon zu wünschen, was Du an Weihnachten von Deinen Eltern möchtest. (Und ganz bestimmt kommt auch kein Wunsch mehr dazu.)
Auf einmal realisierst Du, daß es eigentlich die Zeit ist, die Du wünschst. Mit Menschen, welche Du liebst. Du wünschst Dir einen bestimmten Augenblick festhalten zu können, weil Du seine Einzigartigkeit erkennst. Du möchtest Situationen des vollen Glückes zurück, weil Du erst hinterher so schlau warst zu erkennen, wann Du vollkommen glücklich warst. Du möchtest Verletzungen zurück nehmen, die Du anderen beschert hast und willst selbst nie wieder so verletzt sein, wie in jenen Momenten als Du dachtest, der Boden unter Dir würde sich auftun und Dich verschlingen.
Ich wünsche mir manchmal Sonntage meiner Kindheit zurück. Ich bin immer früh wach gewesen (das mag ich heute selbst nicht mehr glauben) und habe mich in das Wohnzimmer gestohlen, Cartoons geschaut und aus voller Kehle gelacht. Ich habe meine Sachen angezogen und wir sind über Höfe gerannt, haben Keller unsicher gemacht und das schlimmste was hätte passieren können, war die Tatsache irgendwann ins Bett zu müssen.
Es gab noch keine Verluste, Abschiede waren immer nur bis zum nächsten Tag. Es gab kein Risiko. Und nun frage ich mich manchmal, wie es kommen konnte, dass ich nun hier sitze, ein Lied in Dauerschleife höre und mich frage, wann es anfing kompliziert zu werden.
Das Risiko besteht darin, nicht genug gegeben, versucht und erlebt zu haben. Und vielen bleibt diese Zeit eben nicht vergönnt. Und in jenen dunklen Stunden, die sich manchmal wie ein Mantel um mich hüllen, denke ich an sie. An die Menschen die nicht mehr sind, keine Risiken und Erinnerungen mehr haben können. Und ich vermisse sie. Ich vermisse ihr Lachen. Ihre Worte, die mich Dinge gelehrt haben und die Momente, die ich nicht mehr erleben kann. Hätte ich noch was sagen sollen? Eine Umarmung mehr? Für all jene die denken, meine Blogs sollten immer eine Botschaft enthalten...welche hätte dann dieser?
Für mich gibt es nicht immer allen Dingen etwas positives abzugewinnen. Ich vermisse.
Vielleicht ist die Botschaft das ich nicht aufhören werde zu lieben, festzuhalten, was mir wichtig ist, auch wenn wir einander verlieren könnten. Es geht ja nie ohne das Risiko.
Diese Empfindungen sind der vielleicht genialste Twist der Evolution. Wir können alles Hinterfragen und die Instinkte sind unseren Gedanken gewichen. Es ist ein Segen frei zu sein und auch Selbstbestimmt. Aber welche Tragik das an die schönsten Dinge auch immer ein Schatten geknüpft ist. Es ist wie das Ying und Yang, Gott und der Teufel, Feuer und Wasser. Wir können ohne ein Extrem das andere gar nicht wahrnehmen.
Und vielleicht zähle ich meine schönsten Erinnerungen gerade, weil sie mit den bittersten Verlusten einhergingen.
Also lasst uns weiter riskieren, daß wir uns umdrehen und einmal mehr feststellen, was uns die Zeit genommen hat. Vielleicht lächeln wir dann aber ganz still in uns hinein, weil wir eigentlich feststellen, wie reich wir beschenkt wurden.

Für M.
Für O.
Für P.
Für D.
Für R.

Für die Liebe.